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Gesamtvergabe statt Losaufteilung – Anforderungen an die Begründung

Die Vergabekammer des Bundes hat sich in einer kürzlich ergangenen Entscheidung (Beschluss vom 29. Februar 2024, VK 2-17/24) mit der in der Praxis immer wiederkehrenden Frage auseinandergesetzt, unter welchen Voraussetzungen vom Grundsatz der losweisen Vergabe abgewichen werden darf. Die Entscheidung betrifft einen Zwiespalt, in dem sich öffentliche Auftraggeber regelmäßig wiederfinden: Einerseits haben sie die Verpflichtung zur Erfüllung der Vorgabe des Vergaberechts, grundsätzlich eine Losaufteilung vorzunehmen, andererseits fordert die Fachseite häufig eine Gesamtvergabe und behauptet häufig, dies sei unvermeidbar.

Der Sachverhalt

Mit dem zu vergebenden Auftrag wollte die Auftraggeberin durch eine Vielzahl von Bauarbeiten einen Autobahnabschnitt erneuern, bei dem es sich um einen stark frequentierten Teil handelt, welcher im Bundesverkehrswegeplan 2030 mit der Dringlichkeitsstufe "Vordringlicher Bedarf – Engpassbeseitigung" ausgewiesen wurde.

Sie schrieb diese unionsweit aus und wählte dabei eine Gesamtvergabe. Auf eine Aufteilung in Fachlose (Verkehrssicherung, Markierungsarbeiten, passive Schutzeinrichtungen) verzichtete die Auftraggeberin, um Synergieeffekte zu erzielen und die Bauzeit so gering wie möglich zu halten. Die Gründe hierfür dokumentierte die Auftraggeberin in einem Vermerk. Als wesentliche Gründe wurden dort aufgeführt:

  • Verkürzung der Bauzeit bei Anwendung des Verfügbarkeitskostenmodells;
  • Partizipation der Fachlos-Auftragnehmer an einer möglichen Beschleunigungsvergütung des Generalunternehmers;
  • höhere Wirtschaftlichkeit in der Beschaffung;
  • deutliche Verringerung von Sicherheitsrisiken;
  • Vermeidung von Kompatibilitätsproblemen;
  • zu erwartender erheblicher volkswirtschaftlicher Nutzen einer Bauzeitverkürzung.

Die Auftraggeberin hat in ihrem Vergabevermerk die geschätzten Bauzeiten bei den Modellen Gesamtvergabe/Verfügbarkeitskosten (Variante 3), Fachlosvergabe/Verfügbarkeitskosten (Variante 2) und Fachlosvergabe (Variante 1) gegenübergestellt. Dabei kam sie zu dem Ergebnis, dass die von ihr präferierte Variante 3 mit der Gesamtvergabe die Bauzeit um 21 Tage (gegenüber Variante 2) bzw. 38 Tage (gegenüber Variante 1) verkürzen könnte.

Das Verfügbarkeitskostenmodell zeichnete sich dadurch aus, dass die Auftraggeberin dem zukünftigen Auftragnehmer die Beanspruchung der Fahrbahn zum Zwecke der Erledigung der Bauarbeiten gegen die Entrichtung von Verfügbarkeitskosten zur Verfügung stellt. Die Auftraggeberin gibt lediglich einen zeitlichen Rahmen vor, innerhalb dessen die Bauarbeiten fertiggestellt werden sollen. Die tatsächlich erforderliche Bauzeit ist Gegenstand der Angebote der Bieter und
wird - im Falle der Auftragserteilung - mit konkreten Baufristen vertraglich vereinbart. Kann der Auftragnehmer die Bauarbeiten früher abschließen als im Angebot vorgesehen, erhält er von der Auftraggeberin im Rahmen der Schlussrechnung einen Bonus, der umso höher ausfällt, je kürzer die tatsächliche Bauzeit im Vergleich zur angebotenen Bauzeit war.

Zuschlagskriterium ist ein fiktiver Wertungspreis. Dieser wird ermittelt aus der Wertungssumme des Angebots zuzüglich der anhand der angebotenen Anzahl an Werktagen zu wertenden Verfügbarkeitskosten.

Mit einem Nachprüfungsantrag wandte sich eine Bieterin - nachdem sie erfolglos gerügt hatte – gegen die Gesamtvergabe und beanstandete in erster Linie, dass die Verkehrssicherung nicht als separates Los ausgeschrieben worden war.

Die Entscheidung

Die Vergabekammer des Bundes entschied, dass der Nachprüfungsantrag zwar zulässig, aber unbegründet sei. Die Auftraggeberin war im streitgegenständlichen Vergabeverfahren berechtigt, von einer Losaufteilung abzusehen.

§ 97 Abs. 4 S. 2 GWB normiere den Grundsatz der Losaufteilung. Dieser Grundsatz sei vorliegend zwar einschlägig, denn für die Teilleistung "Verkehrssicherung" bestehe, was auch auf Seiten der Auftraggeberin unbestritten war, ein eigenständiger fachlicher Markt. Daher sei nach § 97 Abs. 4 S.2 GWB grundsätzlich ein Fachlos zu bilden.

Allerdings gelte der Grundsatz nicht ausnahmslos. § 97 Abs. 4 S. 3 GWB erlaube die Gesamtvergabe, wenn wirtschaftliche oder technische Gründe dies erfordern. Das habe die Auftraggeberin vorliegend beanstandungsfrei angenommen.

Hierbei habe die Auftraggeberin insbesondere die Gründe einer erhöhten Unfallgefahr im Baustellenbereich, volkswirtschaftliche Nachteile infolge von Zeitverlust durch Staugeschehen, ökologische Nachteile durch vermehrte staubedingte Emissionen sowie die Notwendigkeit von (vorübergehenden) Sperrungen von Anschlussstellen angeführt. Diese Gründe seien insgesamt geeignet, eine Ausnahme vom Grundsatz der Fachlosvergabe zu rechtfertigen. Die Vergabekammer hob zudem ausdrücklich hervor, dass (nicht berücksichtigungsfähige) verwaltungsinterne Eigeninteressen, wie etwa das Entfallen von Koordinierungsaufwand, der bei einer Gesamtvergabe nicht beim Auftraggeber, sondern beim Generalunternehmer läge, von der Auftraggeberin nicht angeführt wurden.

Die hinter dem besonderen Beschleunigungsinteresse stehenden Ziele seien wirtschaftlicher und technischer Natur im Sinne von § 97 Abs. 3 S. 3 GWB und gingen – soweit die erhöhte Unfallgefahr betroffen sei – sogar darüber hinaus, denn es gehe dabei um die Abwehr von Gefahren für Leib und Leben der Verkehrsteilnehmer.

Zwar stellte die Vergabekammer zunächst fest, dass die von der Auftraggeberin genannten Nachteile regelmäßig mit Baustellen einhergingen, denn Baustellen führten sehr häufig zu Verkehrsstaus und stellten unfallträchtige Bereiche dar. Wolle man diese Gründe pauschal als Argument für eine Gesamtvergabe gelten lassen, so könne sich die Auftraggeberin bei Bauarbeiten an Bundesautobahnen stets auf technische und wirtschaftliche Gründe für eine Gesamtvergabe berufen, wodurch das Fachlosgebot ins Leere liefe.

Im vorliegenden Fall läge jedoch nicht nur ein allgemeines, sondern ein streckenabschnittbedingt spezifisches Beschleunigungsinteresse mit Bezug zum konkreten Vorhaben vor. Die Auftraggeberin berufe sich gerade nicht pauschal auf die angeführten Gründe, sondern stelle schon im Vergabevermerk auf die ganz konkrete Baustelle und deren Besonderheit ab. Aufgrund der extrem zugespitzten Verkehrssituation, welche die Auftraggeberin nachweisen konnte und aufgrund derer auch die Bundesregierung dem Projekt ein überragendes öffentliches Interesse attestierte, sei das hinter dem besonderen Beschleunigungsinteresse stehende Ziel einer schnellstmöglichen Beendigung der Baumaßnahme ein legitimer Grund für eine Gesamtvergabe.

Der Verzicht auf die Fachlosvergabe sei auch geeignet, eine schnellere Abwicklung des Bauvorhabens zu gewährleisten. Die Beschleunigung sei mit dem Verfügbarkeitsmodell angestrebt worden. Die Bauzeit werde in den Wettbewerb gestellt, indem die Bauunternehmer auf Bieterseite die von ihnen für erforderlich gehaltene Bauzeit individuell berechnen. Je kürzer die angebotene Bauzeit, desto geringer sei der (fiktive) Wertungspreis. Die individuell angebotene Bauzeit werde Vertragsinhalt.

Ein solches Vorgehen, bei dem die Bauzeit nicht auftraggeberseitig vorgegeben wird, sei jedoch bei einer losweisen Vergabe der Verkehrssicherung nicht möglich, da nur ein der Bauvergabe zeitlich nachfolgendes Vergabeverfahren in Betracht kommen könne. Denn der Auftraggeber könne für ein Fachlos keine Ausführungsfrist vorgeben, wenn diese im Wettbewerb von den Bauunternehmen erst anzubieten und daher auch erst mit Öffnung der Angebote und letztendlich mit Auftragserteilung an das Bauunternehmen bekannt sei. So habe ein Bauunternehmer in einem ähnlichen Verfahren ein Angebot abgegeben, das die Durchführung der Baumaßnahme nicht am Ende der Bauzeit verkürzte, sondern wonach eine Verkürzung der Gesamtbauzeit über einen zeitlich späteren Baubeginn erreicht werde. Damit wären, den Zuschlag auf dieses Angebot unterstellt, auch die Verkehrssicherungsleistungen zeitlich später zu erbringen. Zu lösen wäre dies nur über eine konsekutive Durchführung von zwei Vergabeverfahren, die aber den Beginn der Baumaßnahmen wiederum erheblich verzögern würde; der Bauauftragnehmer müsste mit Beginn der Bauausführung warten, bis auch das Fachlos vergeben ist. Werde aber für das Fachlos keine Ausführungsfrist vorgegeben, so sei dies wiederum vergaberechtlich angreifbar unter dem Gesichtspunkt der nicht ausreichenden Bestimmtheit der Leistungsbeschreibung, § 121 GWB.

Das Verfügbarkeitskostenmodell setze zudem voraus, dass der Bauunternehmer die Möglichkeit zu flexiblem Handeln und zu flexibler Absprache mit den anderen Gewerken habe, da die verschiedenen Gewerke auf der Baustelle ineinandergreifen. Diese Möglichkeit sei im Sinne einer Wahrscheinlichkeit eher gegeben, wenn das Bauunternehmen selbst Vertragspartner der Fachgewerke ist und die verschiedenen Unternehmen vor Ort auf der Baustelle flexiblere Absprachen treffen können, als wenn die Auftraggeberin als Vertragspartnerin der Fachgewerke zwischengeschaltet ist.

Der Verzicht auf Fachlose sei auch als "erforderlich" im Sinne von § 97 Abs. 3 S. 3 GWB zu bezeichnen. Die Erforderlichkeit sei nicht erst dann gegeben, wenn ein Losverzicht vollkommen alternativlos wäre, denn eine Alternativlosigkeit dürfte bei der Frage nach der Losaufteilung in der Praxis kaum vorkommen. Die Erforderlichkeit im Sinne der Norm, aus wirtschaftlichen oder technischen Gründen von einer Losaufteilung abzusehen, sei vielmehr zu verstehen als eine konkrete Ausprägung des allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes.

Der Vergabekammer sei sich dabei durchaus bewusst, dass ein Verzicht auf die Losvergabe bei Fachlosen besonders schwer wiege, da die interessierten Fachunternehmen weitgehend ausgeschlossen seien und vornehmlich als Nachunternehmer am Auftrag partizipieren könnten. Zwar würde der konkrete Auftrag der Verkehrssicherung schlussendlich bei den Fachunternehmen ankommen, da die Bauunternehmen regelmäßig nicht auf die Erbringung dieser Leistungen eingerichtet seien, diese seien aber keine öffentlichen Auftragnehmer und damit in ihrer Entscheidung frei, welchen Nachunternehmer sie für die Verkehrssicherung einbinden wollen.

Die Vergabekammer hat bei ihrer Entscheidung zudem das vorliegende Vergabeverfahren sowohl im Kontext mit den übrigen Vergabeverfahren der Auftraggeberin – also in einer Gesamtschau – als auch isoliert betrachtet und diesbezüglich eine verhältnismäßige Anwendung des Ausnahmetatbestandes (über alle Vergabeverfahren der Auftraggeberin hinweg) angenommen. 90 Prozent aller Bauprojekte der Auftraggeberin seien konventionell, also losweise ausgeschrieben und beauftragt worden. Der besondere Beschleunigungsansatz werde nach der Auftraggeberin nur bei Abschnitten mit besonderer Belastung gewählt, an denen eine schnelle Abwicklung besonders wichtig sei. Etwas anderes ergebe sich auch nicht bei isolierter Betrachtungsweise. Das Projekt unterliege zulässigerweise einer besonderen Priorisierung mit der Folge eines besonderen und spezifischen Beschleunigungsbedürfnisses.

Praxistipp

Der Beschluss der Vergabekammer des Bundes stellt klar, dass die Ausnahme vom Gebot der losweisen Vergabe nach § 97 Abs. 4 S. 3 GWB einen eng auszulegenden Ausnahmetatbestand darstellt und zeigt anschaulich, welch hoher Begründungsaufwand betrieben werden muss, um einen Verzicht auf eine losweise Vergabe zu rechtfertigen. Die Aspekte, die bei jeder (losweisen) Vergabe auftreten und den Vergabestellen üblicherweise von der Fachseite als unüberwindbare Hindernisse und zwingende Gründe für eine Gesamtvergabe präsentiert werden, genügen in aller Regel nicht. Insbesondere die üblichen "Lästigkeiten" einer losweisen Beauftragung wie Koordinationsaufwände beim Auftraggeber, unterschiedliche Haftungssubjekte im Fall der Schlechtleistung, aber auch üblicherweise in Kauf zu nehmende zeitliche Verzögerungen, können ein Absehen vom Gebot der losweisen Vergabe nicht rechtfertigen. Vielmehr ist ein über den Normalfall hinausgehender besonderer Grund für die Gesamtvergabe nötig. Hierfür sind – insbesondere von den fachlichen Abteilungen - stichhaltige Gründe zu nennen. Diese sind – am besten wie hier geschehen in einem Vermerk, der zur Vergabeakte genommen wird – zu dokumentieren. Ein weiterer Grund für eine Gesamtvergabe wäre im Übrigen dann gegeben, wenn es (europaweit!) keinen entsprechenden Markt für die für ein Fachlos in Betracht kommenden Teilleistungen gibt. Dies kann im Einzelfall durch eine entsprechende Markterkundung vor Einleitung des Vergabeverfahrens ermittelt werden, die ebenfalls sorgfältig zu dokumentieren wäre.

Auffällig ist die zumindest ergänzend von der Vergabekammer des Bundes über die verschiedenen von der Auftraggeberin durchgeführten Verfahren hinweg angestellte Gesamtbetrachtung im Sinne der Frage, ob die Auftraggeberin insgesamt maßvoll mit dem Ausnahmetatbestand umgeht. Damit blickt sie in äußerst ungewöhnlicher Weise (vermutlich aufgrund entsprechenden Vortrags der Auftraggeberin) über den Tellerrand des zu beurteilenden Vergabeverfahrens hinaus auf die gesamte Vergabepraxis der Auftraggeberin. Welche Bedeutung dieser Aspekt für die Zulässigkeit der Gesamtvergabe im konkreten Fall aus vergaberechtlicher Sicht haben soll, lässt die Vergabekammer des Bundes aber offen. Tatsächlich ist nicht erkennbar, welche Relevanz das Vorgehen in anderen Verfahren, wenngleich derselben Auftraggeberin, für die Prüfung im konkret zu entscheidenden Fall haben sollte, da nur hinreichende Gründe im Einzelfall die Gesamtvergabe rechtfertigen können.

Katrin Lüdtke
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